Im März 2025 hat die Otto Group einen strategischen Wendepunkt vollzogen. Mit dem Launch eines umfassenden unternehmensweiten KI-Frameworks und der internen Plattform One.O bündelt der Hamburger Konzern seine technologischen und analytischen Kompetenzen. Ziel ist nicht bloß Effizienzsteigerung, sondern ein vollständig datengestützter Marketingansatz – von personalisierten Produkttexten bis zur automatisierten UX-Optimierung. In einer Zeit, in der globale Plattformen wie Amazon oder Shopify den E-Commerce dominieren, setzt Otto auf einen selbstbestimmten Pfad: KI ja – aber unter europäischem Datenethos und regulatorischer Verantwortung. Und auch SAP verfolgt konsequent die Weiterentwicklung innovativer Lösungen.
Joule als Business-Copilot
SAP hat mit dem KI-Copiloten Joule einen zentralen Baustein in seiner Cloud-Strategie geschaffen. Joule ist kein generelles Sprachmodell wie Gemini, sondern ein domänenspezifischer Business-Agent, der tief in SAP-Anwendungen wie S/4HANA, SuccessFactors und Ariba integriert ist. Der Fokus liegt auf betriebswirtschaftlichen Aufgaben: von der automatisierten Berichterstellung über die Stammdatenpflege bis zur intelligenten Weiterleitung von Serviceanfragen.
Joule basiert auf der SAP Business Data Fabric, einer semantischen Schicht über unterschiedlichen Datenquellen hinweg, die Echtzeitentscheidungen und kontextbasierte Automatisierungen ermöglicht. Im Gegensatz zu US-Tools wie Google Gemini oder Microsoft Copilot zielt SAP nicht auf Contentgenerierung im Marketing, sondern auf operative Effizienz und skalierbare Automatisierung in ERP-Prozessen. Damit positioniert sich SAP als Vorreiter für KI in regulierten Geschäftsanwendungen.
Generative KI für skalierbare Produktkommunikation
Die Otto Group verfolgt hingegen eine konsumorientiertere KI-Strategie. In ihren Tochterunternehmen – etwa der Witt Group – werden generative KI-Modelle eingesetzt, um Produktbeschreibungen automatisiert zu erstellen. Diese basieren auf strukturierten Produktdaten, Bildmaterial und SEO-Analysen. Ziel ist die Erstellung suchmaschinenoptimierter Texte, die automatisiert in das Content-Management-System übertragen werden.
Im März 2025 präsentierte Otto ein eigenes KI-Framework, das unter anderem Bildanalyse und Keyword-Matching integriert. Ergänzend wurde die interne Plattform „One.O“ gegründet – ein gruppenweiter Dienstleister für Strategie, Daten und KI. Hier entstehen u. a. Empfehlungen für Kundensegmentierungen, automatisierte Ratingsysteme und datengetriebene UX-Anpassungen..
Im Unterschied zu Amazon oder Shopify, die auf externe KI-Dienste wie Bedrock oder Magic setzen, verfolgt Otto eine eigenständige Modellarchitektur, um Datenschutz und Datenhoheit zu wahren.
Regulierung als Innovationsmotor
Ab dem 2. Februar 2025 gelten aufgrund des EU AI Act erste Vorschriften, darunter Verbote bestimmter KI-Praktiken und Anforderungen an die KI-Kompetenz. Ab dem 2. August 2025 werden weitere Regelungen für allgemeine KI-Modelle wirksam.
Dies betrifft insbesondere Anwendungen im Marketing, die als „hochriskant“ eingestuft werden könnten. Die Einhaltung dieser Vorschriften erfordert eine sorgfältige Planung und Implementierung entsprechender Maßnahmen. Während US-Unternehmen wie Google mit Gemini und Meta mit ihren KI-gestützten Werbeplattformen den Markt prägen, setzen europäische Unternehmen zunehmend auf datenschutzkonforme, regulierte Alternativen. Diese Unterschiede beschränken sich nicht allein auf den KI-Bereich – sie zeigen sich deutlich in weiteren Schlüsselbereichen des digitalen Sektors.
Ein markantes Beispiel ist der iGaming-Sektor: In Deutschland unterliegen Online-Casinos strengen Regeln der Gemeinsamen Glücksspielbehörde der Länder (GGL). Seit Inkrafttreten des Glücksspielstaatsvertrags gelten für legale Online Casinos in Deutschland u. a. ein monatliches Einzahlungslimit von 1.000 €, ein Höchsteinsatz von 1 € pro Spielrunde bei Automatenspielen sowie eine Pflicht zur Identitätsprüfung via zertifizierter Anbieter wie IDnow oder WebID. In den USA hingegen ist der Markt föderal zersplittert: Während einige Bundesstaaten strenge Auflagen erlassen, fördern andere aggressive Bonusmodelle und lassen höhere Einsätze zu.
Auch im Bereich Datenschutz offenbart sich ein grundlegender Systemkonflikt. Die Europäische Union verfolgt mit der Datenschutz-Grundverordnung einen rechtsverbindlichen, sanktionierbaren Standard für den Umgang mit personenbezogenen Daten. Anbieter wie Tutanota (verschlüsselte Mail), Nextcloud (Self-Hosting) oder Proton (VPN und Mail) positionieren sich erfolgreich als „Privacy-first“-Alternativen zu US-Diensten wie Google Drive, Gmail oder Dropbox. In den USA hingegen existieren keine bundeseinheitlichen Datenschutzgesetze mit vergleichbarer Tiefe – Unternehmen operieren meist nach Prinzipien freiwilliger Zustimmung („consumer consent“) und nutzen personenbezogene Daten weitaus aggressiver für Werbezwecke.
Ein drittes Beispiel betrifft den digitalen Zahlungsverkehr. Während Dienste wie PayPal oder Stripe in den USA und international kaum reguliert sind, gelten in der EU strenge Vorgaben durch PSD2, bald PSD3. In Deutschland etwa müssen alle Zahlungsdienste Zwei-Faktor-Authentifizierung implementieren und unterliegen der Aufsicht der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin). Zugleich entstehen europaweit Alternativen wie wero oder Bluecode, die nicht nur DSGVO-konform, sondern auch mit der European Payments Initiative (EPI) abgestimmt sind. Diese Entwicklungen zeigen, dass Europa im Payment-Sektor auf Souveränität, Interoperabilität und Datenschutz setzt – ein klarer Kontrast zu den stärker renditegetriebenen US-Modellen.
Globale Dynamik
SAP und Otto zeigen, dass Europas Antwort auf die KI-Revolution nicht zwingend im Wettbewerb um das größte Modell liegt – sondern im souveränen, kontextualisierten und regulierten Einsatz. Während die USA auf Innovation durch maximale Datenfreiheit setzen, versuchen europäische Unternehmen Vertrauen, Ethik und Effizienz zu verbinden.
Der Erfolg dieser Strategie wird sich nicht nur an Marktanteilen, sondern auch an gesellschaftlicher Akzeptanz und regulatorischer Belastbarkeit messen lassen. SAP, Otto und weitere Pioniere wie die Telekom oder die Bundesdruckerei beweisen, dass europäische Digitalisierung nicht zwingend hinterherläuft – sondern eigene Wege geht.